Sonntag, 7. September 2014

Über den Widerspruch zwischen Wahrnehmung und Realität


Hallo Ihr Lieben,

heute mal wieder ein Beitrag, den man blogbezogen auch als off-topic einordnen könnte. Ich bin als regelmäßiger Leser der Wochenzeitung "die Zeit" immer wieder fasziniert, wie es der Zeitredaktion gelingt, neben den allgemeinen Medienthemen, diverse Themen von mehreren Seiten zu beleuchten, was zwar nicht immer gelingt, aber zumindest zum Nachdenken anregt.

Vor drei Wochen war im Bereich Feuilleton unter dem Motto "Die große Heuchelei" eine Reflexion zum Thema Sittenmoral zu lesen, die ich sehr interessant fand, da sie ein gutes Abbild unserer Gesellschaft aufzeigt. Ich mache mir ja schon längere Zeit Gedanken, wie es mit unserer vielgelobten Toleranz tatsächlich bestellt ist. Vor allem interessiert mich ja, ob die in den Medien verbreitete Meinung, die westliche Welt sei ja so offen für andere Lebensmodelle, als die in der religiösen (ja sehr wohl aller Religionen) Glaubenslehre als natürlich angesehenen. Ist das tatsächlich so, oder ist es nicht eher die Ansicht einer in sich selbst gefangenen intellektuellen Minderheit?

Beispiel Homosexualität: Die heutige Rechtsgrundlage zur Beurteilung der Homosexualität ist eindeutig wesentlich liberaler, als die im Volke weit verbreitete Ansicht. Noch immer gibt es nicht wenige, sogar Mediziner, die Homosexualität als psychische Krankheit einstufen, die durch Umerziehung geheilt werden kann. Verbunden ist das Ganze mit offener Feindschaft, Übergriffen und verbalen Herabsetzungen sowie (trotz der Gleichstellungsgesetze) oftmals Nachteilen innerhalb von Beruf und Gesellschaft. Das gilt im Übrigen auch generell für die Gleichstellung von Mann und Frau. Zwar ist einerseits das politische Bemühen erkennbar, hier Fortschritte zu erzielen, aber die Politik kann natürlich nur soweit agieren, wie es einen breiten gesellschaftlichen Konsens gibt. Nur der ist leider, außer in den Medien, nicht vorhanden. Daran ändern auch die freundlichen Gesten und die schillernden Bilder von den jährlichen Feiern zum Christopher-Street-Day nichts.

Beispiel Körpernormung: Es ist mir schon seit vielen Jahren ein Dorn im Auge, wenn Menschen nach ihrem Äußeren beurteilt werden. Viele psychische Krankheiten, die sich später oft in physischen Krankheiten manifestieren, werden durch Medien- und Werbekampagnen und den Idioten, die hinter diesen Kampagnen stehen, ausgelöst. Menschen fühlen sich zu fett, dürr, hässlich etc., weil sie dem allgemeinen "Normenbild", was permanent über uns hingeschwallt wird, nicht entsprechen. Aber nicht nur dieser Eigenduktus, sondern auch das von den Kampagnen aufgeheizte Sichtverhalten der anderen, treibt viele Menschen dazu, sich nur noch verschämt zu zeigen. Diversen Umfragen zufolge scheinen etwa zwei Drittel aller Frauen und fast die Hälfte aller Männer in den entwickelten Industrieländern mittlerweile vor allem mit "Makeln" ihres Körpers unzufrieden zu sein. Ein krasser Gegensatz zu den religiösen Lehren, die eigentlich die Einzigartigkeit jedes Individuums hervorheben.

Es ist schon paradox, wie die Fähigkeit zur Visualisierung seiner selbst und der Umgebung uns offensichtlich immer mehr dazu treibt, an uns zu zweifeln. Anders, als im Märchen "Schneewittchen" scheinen wir immer öfter einen Selbsthass gegen uns selbst aufzubauen, wenn wir dem Ideal des Spiegels nicht oder nicht mehr entsprechen.

Was könnte uns helfen, lockerer mit uns und der Welt umzugehen?

Zerschlagen wir zunächst den Spiegel, den uns täglich die Medien unaufgefordert reichen. Schon damit können wir einen Großteil der Belastung aus falschem Eigenbild loswerden. Aber das allein wird nicht ausreichen. Den entscheidenden Schritt werden wir wohl erst tun, wenn wir nicht mehr nach dem Äußeren urteilen, sondern nach dem, was die Besonderheit des Menschen innerhalb der Fauna dieser Welt ausmacht, seine geistige Leistungsfähigkeit. Hört sich ziemlich geschwollen an, ich weiß, aber eine alte Weisheit lautet, nicht am Aussehen sollst Du Deinen Nachbarn beurteilen, sondern an seinem Tun. Am Denken geht leider nicht, da wir nicht über die telepathischen Fähigkeiten dafür verfügen.
Weg mit dem Körperkult. Schon der polnische Romanautor und Psychiater Stanislaw Lem hat sich in seinen "Sterntagebüchern des Ion Tichy" lustig über die Auswüchse des Körperkultes gemacht, der zu paradoxen Mutationen führen kann. Wir sollten unseren Körper weniger als Kunstwerk betrachten, sondern als Gehäuse für einen gesunden Geist. Dazu gehört, ihn leistungsfähig zu halten, fernab von zeitgeistgeprägtem Schönheitsideal.
Kleiden wir uns so, wie wir uns am Wohlsten fühlen. Wir sind alle individuell. Dazu gehört auch, dass wir unseren eigenen Stil finden, unbeeinflusst von denen, die uns einen bestimmten Stil aufdrängen wollen und uns suggerieren, dass wir nur den falschen Körperbau dafür haben und an uns arbeiten müssen, um zum kredenzten Stil zu passen. Möglicherweise kann auf diese Art und Weise ja auch der beinahe unlösbare Widerspruch zwischen Wahrnehmung und Realität gelöst werden. Naja, zu mindestens könnte er etwas kleiner werden.

Bis dahin alles Gute,

Euer BraBerliner

1 Kommentar:

  1. Naja
    Ich Jörn nehme mich selbst als Transe wahr, doch die Realität sieht leider anders aus. Denn in meinem engeren Umfeld ( muss ) man als genormter Mensch rumlaufen, es macht mich fertig weil ich zudem für meine Arbeit nicht so üpig bezahlt werde

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